Wie bremst man richtig? Was tun, wenn das Heck ausbricht? All das, was in der Fahrschule nur Theorie war, lernen die Teilnehmer der Fahrsicherheitstrainings des ADAC am praktischen Beispiel. Die Pirouetten sind vorprogrammiert.
Zehn junge Frauen und Männer machen mit. Alle noch weit von der 30 entfernt. Es geht ja auch um das Fahrsicherheitstraining für junge Fahrer und nicht für alte Eh-Schon-Alles-Erlebt-Haber. Da ist zum Beispiel Jennifer Symmank, 20 Jahre, und mit ihrem Kia Picanto aus Ulm gekommen ist. Oder Evelyn Breuer aus Wangen: 24 Jahre und mit einem 3er BMW unterwegs. Beide haben den Führerschein bereits mit 17 gemacht.
So auch Marc Sonntag. Lässiger Typ, Kapuzenpullover und Kappe rückwärts auf. Er ist 23 Jahre und fährt eine schwarze Mercedes C-Klasse. Marc ist hier, weil er für das Training des ADAC einen Gutschein gewonnen hat – bei einem Gewinnspiel von Schwäbische.de.
Einen besonderen Anlass, der ihn hierher bewegt, gebe es nicht – er habe bislang weder einen Unfall, noch eine brenzlige Situation erlebt. „Ich wollte einfach nur mal mitmachen und erleben, wie das so ist“, sagt er, lächelt und zuckt die Schultern. Auch seine Eltern hätten ihm keinen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben.
Genauso wie bei den anderen Teilnehmern. Die haben das Training nicht gewonnen, sondern praktisch alle Gutscheine für das Training von den Eltern bekommen. Trotzdem haben sie sich auf das Training gefreut, sagen sie. Warum auch nicht? Spannend sei es schon, mit dem eigenen Auto Extremsituationen zu erleben. Und sinnvoll wohl auch.
90 Prozent der Fahrer halten sich für überdurchschnittlich fahrbegabt. Und die wiederum halten 90 Prozent der anderen für unterdurchschnittlich fahrbegabt.
Fahrsicherheitstrainer Thomas Reinhold
Vermutlich führt der Weg ins Fahrsicherheitstraining für junge Leute besonders oft über den Gutschein. Wer den Lehrgang selbst bezahlen würde, würde ja unterschwellig zugeben, dass man es mit dem sicheren Autofahren nicht so hat:
“90 Prozent der Fahrer halten sich für überdurchschnittlich fahrbegabt. Und die wiederum halten 90 Prozent der anderen für unterdurchschnittlich fahrbegabt”, sagt Fahrsicherheitstrainer Thomas Reinhold. Mit anderen Worten: Fast jeder halte sich selbst für einen Formel-1-Fahrer und alle anderen für mäßig begabt. Jeder, der schon mal ein Fahrsicherheitstraining erlebt hat, wird jedoch sofort antworten: Ja, alle haben es nötig.
So sitzen also die zehn jungen Männer und Frauen im Lehrsaal 1 des ADAC in Kempten, morgens um 9 Uhr – fast wie in der Schule. Fahrtrainer Thomas Reinhold beginnt mit trockener Statistik: Mitte der 70er Jahre starben laut ADAC jährlich über 20.000 Menschen im deutschen Straßenverkehr.
Egal was kam, die Leute waren immer dagegen.
Thomas Reinhold
Dann aber wurde das Tempolimit 100 auf Landstraßen, die 30er Zone, Helmtragepflicht für Motorräder, Gurtpflicht für Autofahrer und die 0,5 Promillegrenze eingeführt. “Egal was kam, die Leute waren immer dagegen”, sagt Reinhold. 2019 gab es dann nur noch 3046 Verkehrstote – obwohl die Zahl der Verkehrsteilnehmer seit den 70er Jahren geradezu explodiert ist.
Natürlich sind seither auch die Fahrzeuge viel sicherer geworden: Airbags und elektronische Assistenzsysteme wie ABS und ESP sind im Gegensatz zu früher Standard.
Heutzutage, meint der Fahrtrainer, gebe es nur noch ein Thema, dass die Zahl der Opfer weiter nach unten drücken könnte – und das wäre ein deutlich schärfer geahndetes Verbot von Handys am Steuer. Der ADAC vermutet, dass jeder zehnte Verkehrstote im Zusammenhang mit einem Handy am Steuer steht.
Endlich geht es raus aufs Gelände. Schließlich sind die Teilnehmer gekommen, um mit ihren Autos – vom Elektroauto über Kleinbus und Kleinwagen bis hin zur Edelkarosse ist alles dabei – waghalsige Manöver zu fahren. So soll es also sein: Ab in die Kurve.
Die Aufgabe dort lautet: So schnell wie möglich durch die Kurve kommen, ohne aus der Spur zu geraten. Und nein, das sei kein Driftkurs. Natürlich fliegen alle Teilnehmer mindestens einmal aus der Spur. Spätestens dann, als die Fahrbahn gewässert wird. Nachdem alle einmal rausgeflogen sind, fragt Reinhold: „Warum bremsen Sie eigentlich nicht, wenn Sie merken, dass Sie zu schnell sind? Das gilt auch in einer Kurve. Gas geben hat noch nie einer lernen müssen. Bremsen muss man den Leuten beibringen.“
_Wie sich Marc Sonntag und die anderen Teilnehmer in der Kurve auf nasser Fahrbahn anstellen, das sehen Sie in folgendem Video:
Bremsen ist nicht gleich bremsen
Wenn man stehen bleiben will mit dem Auto, drückt man feste mit dem Fuß auf das Pedal in der Mitte. So weit, so einfach. Aber so einfach ist es eben nicht, wenn man die Resultate der Teilnehmer sieht. Fahrtrainer Reinhold versucht, den Teilnehmern in anschaulichen Übungen zwei Dinge klar zu machen:
- Es hängt von der Geschwindigkeit ab, die man fährt.
- Es hängt von der Art und Weise ab, wie man bremst.
Reinhold stellt zwei Hütchen auf, nimmt Anlauf und fährt mit dem Auto drauf zu. Zunächst mit 30 Kilometern pro Stunde. Er erreicht die beiden Hütchen, ruft zur Verdeutlichung der einsekündigen Reaktionszeit aus dem Fesnter laut: „Einundzwanzig“ und bremst hart. An dieser Stelle platziert er ein drittes Hütchen. „Wenn hier ein Kind gestanden hätte, hätte es überlebt.“
Dann wiederholt er das Ganze mit Tempo 50. Er erreicht die ersten zwei Hütchen, ruft laut „Einundzwanzig“ und noch bevor er zu bremsen beginnt, ist er schon am dritten Hütchen, wo das Kind gestanden hätte, vorbeigefahren. Das Kind hätte er also mit voller Wucht überfahren. Viel weiter hinten steigt Thomas Reinhold aus dem Wagen und erklärt:
Bei 50 ist die Reaktionszeit länger als der Bremsweg bei 30.
Das sei der Grund, warum die 30er-Zone einst eingeführt wurde. Bei Tempo 30 kommen Autos nach nur wenigen Metern zu Stillstand. Das rette Leben.
Und noch etwas verdeutlicht die Vorführung: Wie schnell man auf vermeintlich entfernte Objekte bei 50 Tempo zurast und wie klein sie durch die Entfernung wirken. Jeder Kleber auf der Windschutzscheibe und jeder Duftbaum kann die Sicht erheblich einschränken und diese kleinen Objekte unsichtbar machen. Um vorausschauend fahren zu können, brauche es freie Sicht.
Punkt zwei: Es hängt von der Art und Weise ab, wie man bremst.
Es gibt Unterschiede: Bremsen ist nicht gleich bremsen. Es hängt schon mal davon ab, wie der Autofahrer den Sitz eingestellt hat. Die wenigsten jedenfalls sitzen so im Auto, wie es der Fahrschullehrer mal gezeigt hat. Zu tief, zu weit hinten, zu weit zurückgelehnt, die Nackenstütze nicht angepasst. Wer dann bremsen muss, wird es schlichtweg nicht schaffen, das Bremspedal bis nach hinten durchzudrücken.
Und die Kupplung sollte man bei Vollbremsung auch nicht drücken. Fahrtrainer Reinhold erklärt: Die Kupplung geht leichter und tiefer hinein als das Bremspedal. Werden Kupplung und Bremse gleichzeitig gedrückt, verschiebt sich der Körper, der Kupplung folgend, leicht nach links, was zu weniger Druck auf der Bremse führt. Wenn man also bremst, dann bitte nur mit dem rechten Fuß und die Kupplung erst nach der Bremsung drücken.
In der Fahrschule gehöre die Vollbremsung zwar zum Ausbildungsprogramm, aber die wenigsten Fahrschulen übten sie mehr als zwei oder dreimal. Aber die Bremsübung sei wichtiger als Einparken, das man dagegen bis zum Erbrechen übe. Wie solle ein Autofahrer denn richtig bremsen können, wenn er es nicht einmal vernünftig geübt habe? Deshalb sei die Vollbremsung ein Hauptbestandteil des Fahrsicherheitstrainings.
_Wie sich Evelyn Breuer und Marc Sonntag bei den Bremsübungen anstellen – ob sie um die Wasserfontäne herumkommen oder mitten durch brettern – das erfahren Sie in folgendem Video:
Warum nur eine Hand am Lenkrad dem Fahrer die Nase brechen kann
Sitzen ist die eine Sache, das Lenkrad halten die andere. Damit die zehn jungen Fahrer lernen, wie die Handhaltung am Lenkrad das Fahren beeinflusst, hat der Fahrsicherheitstrainer einen Hütchenparkour aufgebaut, den die Teilnehmer in Schlangenlinien abfahren sollen. Zugegeben, das ist nicht sonderlich spektakulär, dafür bräuchte es nicht unbedingt ein Testgelände, aber es ist umso anschaulicher.
Zunächst einmal geht es so durch den Parkour, wie die Teilnehmer sonst immer fahren. Kein Problem. Dann bittet der Trainer die Fahrer, sich darauf zu konzentrieren, wo ihr Blick hingeht. „Klar, immer dahin, wo man hinfährt“, antwortet Marc Sonntag. Das kennt er noch aus der Fahrschule. Die jungen Fahrer, deren Führerscheinprüfung noch nicht lange zurückliegt, blicken nicht auf die Hütchen an der Seite, sondern immer auf die nächste Lücke. Kein Problem.
Dann gilt es, das Lenkrad richtig zu halten. Nein, nicht locker mit dem Arm quer über das Lenkrad mit einer Hand oben! Denn bei einem Unfall, bei dem der Airbag ausgelöst wird, würde dieser Arm nämlich ins Gesicht des Fahrers geschleudert und ihm die Nase brechen. Deshalb: Die Hände links und rechts ans Steuer, damit der Airbag im Falle eines Falles mitten durch die Hände ins Gesicht gepumpt wird.
Und dann kommt der Moment, der allen Teilnehmern am unangenehmsten ist, denn jeder weiß, wie gefährlich es ist und dennoch macht es wohl jeder am Steuer: Das Handy in die Hand nehmen. Egal für was – chatten, surfen, recherchieren oder navigieren – alles ist gefährlich. Denn es beeinträchtigt die Konzentration des Autofahrers, was automatisch zu einer schlechteren Fahrweise führt.
Thomas Reinhold gibt durch das Funkgerät die Anweisung: „Schreiben Sie jetzt bitte folgende Textnachricht in Ihr Handy: ‚Treffpunkt um 16 Uhr im Eiscafé Venezia auf einen Cappuccino.‘“ Marc Sonntag lacht und beginnt zu tippen. Das Auto vor ihm wirft da bereits ein Hütchen um, zwei Kurven später nimmt Sonntag auch ein Hütchen mit. Und schon sehen die Schlangenlinien nicht mehr flüssig aus, die Teilnehmer fahren langsamer und abgehackt und fahren dichter an den Vordermann heran.
Vor 25 Jahren wurde das ESP eingeführt, erzählt Fahrtrainer Reinhold noch früh am Morgen im Lehrsaal, da sei man davon ausgegangen, dass es die Verkehrstoten in Deutschland unter 3000 im Jahr drücken könnte. Das Elektronische Stabilitätsprogramm, kurz ESP, verhindere, dass Autos ins Schleudern geraten. Doch die Zahl der Verkehrstoten habe sich nicht verändert seither. Was aber nicht daran liege, dass das ESP enttäuscht habe.
Schuld daran seien die zunehmenden Unfälle, bei denen Fahrer von ihrem Handy abgelenkt wären. „Immer dann“, mutmaßt Thomas Reinhold, „wenn in der Zeitung steht: ‚Kam aus unbekannter Ursache von der Fahrbahn ab‘, steckt so gut wie immer ein Smartphone dahinter. Das kann man im Nachhinein ja nicht mehr überprüfen.“
Das ist die bittere Erkenntnis aus dem Hütchenparkour: Vier von etwa zehn Hütchen sind umgenietet worden. Nur deshalb, weil die Fahrer sich im Eiscafé verabreden wollten.
Am Ende des Tages – so ein Training dauert immerhin gute acht Stunden – sind die Teilnehmer platt. Die Erschöpfung steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Die dauernde Fahrerei, die harte Bremserei und die ruckartige Lenkerei erfordern jede Menge Konzentration. Zwar sind fast alle auf Wunsch der Eltern gekommen, die ihnen einen Gutschein geschenkt haben, aber am Ende lachen sie zufrieden und nicken einig: Der Tag hat sich wirklich gelohnt. So ein Fahrtraining hilft dann doch sehr.
Wie schon gesagt: Jeder, der schon mal ein Fahrsicherheitstraining erlebt hat, wird sofort antworten: “Ja, alle haben es nötig.”
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